Wendezeiten

Ach ja, die Zeitenwende! Wende ist ein großartiges Wort für ein großartiges Ereignis. Mit dem Bug durch den Wind und zurück zackzack in die Gegenrichtung. Das Großsegel geht von selbst auf die andere Seite. Oder kurz und verständlich ausgedrückt: von der Regierung Kohl zurück zur Regierung Kohl. Das war 1989.

Jetzt wieder eine Zeitenwende. Vielleicht eher eine Halse: mit dem… dem A…, äh, also dem Heck durch den Wind. Scholz wird Militarist. Zackzack, rechtsum. Nie wieder dieses NIE WIEDER! Es gibt einen Krieg, und wir sind dabei. Auf der richtigen Seite natürlich. Ohne Waffen natürlich. Mit 5000 Sturzhelmen für die bedrohten Radfahrer in der Ukraine. Reicht nicht? Okay, dann auch ein paar ausrangierte Panzer. Vielleicht. Dazu die nötige Munition. Wenn wir sie irgendwo noch finden auf der Welt. Und vor allem natürlich mit Geld. Mit Milliarden, drunter läuft heute nichts mehr. Apropos Milliarden: auch für unsere arme Bundeswehr gibt es jetzt Milliarden. 100 Milliarden. Eine Milliarde sind 1000 Millionen. 100 Milliarden also hunderttausend Millionen. Weil wir bisher mit unserem Heer so schäbig sparsam umgegangen sind, konnten wir schließlich unsere Sicherheit am Hindukusch nicht mehr gehörig verteidigen. 2021 zum Beispiel gaben wir für unsere Verteidigung ein bisschen mehr als 50 Milliarden (Dollar) aus. Das ist doch läppisch! Unsicher und voller Selbstmitleid standen wir in der Welt herum und fragten mit Franz Schubert: Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?

Aber es gab eine Antwort. Eine kleine Wende. Deutschland und seine Demokratie mussten doch weiter verteidigt werden. Auch militärisch. Dafür war die Bundeswehr schon länger im Einsatz. In Mali, Afghanistan, Bosnien, Kosovo usw. In der Ukraine nicht! Noch nicht? Grundgesetz? Na, vielleicht macht das wieder mal Urlaub. Wäre nicht zum ersten Mal, ein Krieg so nah. In Europa! Echt? Und was war mit den Kriegen in der Ukraine 2013/14. Dem Bergkarabach-Konflikt 2020. Dem Georgienkrieg 2008. Den Jugoslawien-Kriegen in den 1990er Jahren. Den Tschetschenienkriege 1994-1996 und 1999-2009. Dem Transnistrien-Konflikt 1992.

Übrigens: Was wir jetzt er- und durchleben ist, entgegen der viel geäußerten Meinung nicht ganz neu. Den Grund für eine Zeitenwende hatten wir schon mal. Einen großen völkerrechtswidrigen Krieg. 2003. Die USA überfielen den Irak. Einer der mehr als 40 Kriege der USA seit 1945. Sie erinnern sich nicht? Haben Sie das alles vergessen? Wie damals Hunderte PolitikerInnen aus der ganzen Welt nach Washington gereist sind? Um George Dabbelyou Bush zu überzeugen, dass er sofort aufhört und seine Truppen zurückzieht? Die Tausenden Demonstrationen in der ganzen Welt und auch in unserem Land? Die selbstverständlichen Hilfsaktionen für die vielen, vielen Flüchtlinge, die auch nach Deutschland kamen? Da wurde ganz unbürokratisch Asyl gewährt. Die empörte Bevölkerung sammelte Kleidung, Essen und Trinken. Auf einem Spendenkonto, jeden Abend im Fernsehen die Nummer eingeblendet, gingen Millionen ein. In den Schulen gab es Arabisch als Wahlfach. Und erst diese ganzen Sanktionen gegen die USA!? Alles vergessen? Eine Zeitenwende sah dennoch keiner und keine. Wo war eigentlich Olaf Scholz damals, 2003?

Bush verkündete dagegen, das sei ein „sauberer Krieg“, sozusagen eine „Sondermilitäroperation“. Da würden in zu nur militärisch wichtige Ziele angegriffen. Dank der modernen Technologie sei das möglich. Keine zivilen Opfer? Bei Wikipedia findet man folgende Zeilen:

Wie viele Iraker starben, ist bis heute umstritten. Schätzungen reichen von 100.000 Toten bis hin zu mehr als einer Million Opfer zwischen 2003 und dem Abzug der US-Kampftruppen 2011. Die US-Studie „Der Irak-Krieg 2003 und vermeidbare menschliche Opfer“ geht in einer niedrigen Schätzung davon aus, dass der Irakkrieg etwa eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat. Der Untersuchung zufolge können die meisten Toten auf direkte Gewalteinwirkung wie Schüsse und Bombenangriffe zurückgeführt werden. Ein Drittel der Opfer verstarb an indirekten Folgen, wie dem Zusammenbruch der Infrastruktur für Trinkwasser, Ernährung, Verkehr und Gesundheit.

Auch damals ging es ums Erdöl. Heute kommt noch das Gas dazu. Die grünen Minister in der Ampel stampfen erst mal ihre Wahlprogramme ein und werden Realpolitiker. Die Außenministerin fordert lautstark, schwere Waffen zu liefern. Schließlich sind wir das Land mit den viertgrößten Waffenexporten in der Welt.

Habeck wird hier völlig missverstanden. Er bewundert gerade die Schuhe des Scheichs

Der Wirtschaftsminister macht Geschäfte mit Katar. Es gibt schließlich auch gute Diktatoren auf der Welt. Die Medien? Seit Wochen jeden Abend ein Bericht im Fernsehen. Oft als Aufmacher. Konsequent und ganz objektiv wird praktisch die  jeweilige Regierungspolitik verbreitet. So wie damals 2003. Können Sie sich wirklich nicht erinnern? Die Bilder und kleinen Filmchen damals, in allen Nachrichtensendungen? Erschüttert saßen wir auch damals auf dem Sofa. Schockiert von den rauchenden Trümmern aus zerbombten Häusern, die weinenden Witwen, verwaisten Kinder, gefolterten Soldaten, vergewaltigten Frauen. Das gab es damals nicht? Sowas Schreckliches? Seien Sie nicht naiv, das gibt es in jedem Krieg. Auch damals. Und in den Talkshows schon seit Wochen: Für Putin wird Den Haag gefordert. Klar, Bush sitzt ja auch lebenslänglich. Bush fühlte sich schon immer als KünstlerIn Frieden und Wohlstand, nicht im Knast. Künstler bleibt Künstler, in den USA.

Um es klar zu sagen, sonst bin ich gleich ein Putinversteher: Putin ordnet diese ganzen Grausamkeiten in der Ukraine an. Er ist ein Kriegsverbrecher und nimmt andere Kriegsverbrecher in Schutz. Selenskyj ist nicht Saddam Hussein. Der Irak lebte in einer Diktatur. Die Ukraine ist… ähm, war…ähm, das wissen wir nicht so genau. Aber wenn wir heute die Nachrichten verfolgen ist und war die Ukraine eine Demokratie ohne Fehl und Tadel. Oder haben Sie was anderes mitgekriegt?

Doch, ja: ab und zu kommt sogar mal einer in eine Talkshow, der sich auskennt. Bei Maischberger zum Beispiel. Klaus von Dohnany zum Beispiel, unter Kanzler Willy Brandt Staatsminister im Auswärtigen Amt. Er hat andere Ansichten zum Ukraine-Krieg, er weist auf die Rolle hin, die auch der Westen dabei spielt. Der wird dann ganz sachlich befragt, von der ruhigen, emotionsfreien Moderatorin. Sie musste den 93jährigen – überhaupt, in so einem Alter ist klares Denken doch nicht mehr zu erwarten, oder? – den musste sie ständig unterbrechen, ihm ins Wort fallen, überlegen grinsen, um die verqueren Ansichten dieses Mannes mit den wirklich richtigen Fakten und Meinungen zur Ordnung zu rufen.

Schwere Waffen in die Ukraine. Um den Krieg zu beenden. Gerade jetzt wieder wird die Forderung lauter. Im Donbass sind die Russen dabei, zu gewinnen. Das darf nicht sein. Sagt auch Scholz. Deshalb müssen doch die schweren Waffen geliefert werden! Weil dann der Krieg immer weiter geht. Bis Russland besiegt ist. Ja, das kann dauern. Immerhin: Laut Global-Firepower-Index besitzt Russland die zweitstärksten Streitkräfte und das stärkste Heer weltweit.[10 KO nimm]Na und? Wir haben Zeit. Wir brauchen Geduld. Wir schaffen das. Schlimmstenfalls haben wir ja die NATO.

Bert Brecht schrieb 1938: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten. Heute würde er vermutlich schreiben: Wirklich, ich lebe in totaler Finsternis, in einer Zeitenwende.