NICHTS ist normal

Wir haben den 26. April 2021. Montag. Ich sitze im Café, in meinem Stammcafé in Senigallia. So wie früher. Alles ganz normal. Nur dass ich jetzt die Maske abnehmen muss, ehe ich in diese leckere Brioche beißen kann, dieses Croissant auf italienisch, und den ersten Schluck Cappuccino dazu trinken.

Aber sonst ist alles ganz normal. Außer dass ich jetzt im Freien sitzen MUSS. Drinnen ist geschlossen. Trotzdem ein großer Fortschritt: bis gestern waren Cafés und Ristoranti ganz geschlossen. Seit Wochen, seit Monaten. Brioche und Cappuccino gab es zwar, aber im Pappbecher und draußen vor der Tür. Ging ja auch, irgendwie. Wenn es nicht gerade regnete. So wie jetzt: dunkle Wolken kommen vom Apennin her. Ich hoffe, es regnet nicht gleich. Dann müsste ich leider weg von hier.

Aber sonst ist alles ganz normal. Die Politik zum Beispiel auch. Das heißt hier in Italien… aber das zu erklären würde zu lange dauern. Nehmen wir Deutschland. 2021 ist wieder ein Jahr mit ganz vielen Wahlen. In Kommunen, in Ländern und im Bund. Ganz normal. Nur dass die CDU/CSU nicht mehr vorne liegt. Und keine Volkspartei mehr ist. 30 % der Wähler*innen sind nicht das Volk. Dabei hat die Union ihren Kanzlerkandidaten unter zwei gleich phantastischen Kandidaten auswählen müssen. Die waren, jeder auf seine Art, so gut, dass es wochenlang dauerte, ehe sich die beiden Parteien, ganz ruhig und entspannt, einmütig und einsichtig für den besten unter den beiden guten entscheiden konnten. Ganz normal. Nur: der nächste Kanzler kommt nicht selbstverständlich aus den Reihen der demokratischen Christen; die nächste Kanzlerin sowieso nicht. Das ist nicht normal, weder noch. Aber gut so, finde ich.

Kanzler wird auch von der SPD wahrscheinlich keiner. Kanzlerin schon gleich gar nicht. Das ist ganz normal, seit längerem schon. Angefangen hat es damit, dass der Gerhard Schröder ins Beraterteam von Putin gewechselt ist und auch dort seinen Mann steht. Seither ist die fortschrittliche Partei ihren mannhaften Weg konsequent fortmarschiert. Kleine Irrwege wurden schnell korrigiert. Andrea Nahles war zum Beispiel so einsichtig, dieser Entwicklung nicht lange im Weg herumzustehen. Der Erfolg gibt den sozialen Demokraten Recht, sie wissen: jetzt wird wieder ein richtiger Mann von ihnen Kanzler, Olaf Scholz. Vielleicht. Wenn in diesem Spiel nicht doch noch die Wirecard sticht. Oder die SPD nur auf 17,83 % kommt, bei den Wahlen in Herbst. Was ja doch immerhin ein bemerkenswerter Zuwachs wäre.

Aber sonst ist alles ganz normal. Außer dass auch die Grünen jetzt zum ersten Mal ins Kanzleramt streben. Mit Annalena Baerbock als Kandidatin. Ja aber wo sind wir denn?! Grün und Frau, das ist echt too much für Machos. Also für die große Mehrheit der wahlberechtigten Männer. Das werden sie der Annalena Baerbock schon noch zeigen. In den nächsten Monaten.

Überhaupt: ich finde, es reicht. Was übrigens keine neue Erkenntnis meinerseits ist. Sie ist heute genau ein Jahr alt. Am 26. April 2020 habe ich ein NICHTS veröffentlicht unter dem Titel „Es reicht“. Da war schon abzusehen, dass fortan unsere Normalität eine „neue Normalität“ sein würde. Und wie sie aussehen würde. Daran hat sich nicht viel geändert. Auch heute werden weiterhin die „Öffnungsdiskussionsorgien“ praktiziert, welche die Kanzlerin damals so empört haben, mit immer mehr Beteiligten und neuen Ideen. Von Wissenschaftler*innen, Ethiker*innen, Künstler*innen, Journalist*innen, Ärzt*innen, Philosoph*innen und vielen anderen *innen mehr. Und dazu von einer großen Zahl von Kreuz- und Querdenker*innen. Welche bekanntlich als einzige durchblicken und ganz genau wissen, dass diese Corona-Pandemie-Geschichte nur eine mehr oder weniger satanische Erfindung ist. Dass die Zahl unaufhörlich zunimmt der langsam, elend, schmerzhaft und einsam Verreckenden, können sie ja nicht wegquerdenken. Aber schließlich müssen alle mal sterben. Sagen sie.

Alles ganz normal. Neu normal. Auch dass ich jetzt, weil es hier draußen angefangen hat zu regnen, drinnen bezahle, als einziger noch verbliebener Gast inzwischen. Dass ich jetzt dann meine Maske aufsetze und mein Café verlasse. Das einzige, was nicht normal ist: dass es jetzt diese Verimpfung gibt. Mit ein paar Problemen, mit denen wir Deutschen ganz viele unserer Nachbarn in Europa zum Staunen bringen. Das hätten sie nie gedacht von uns. Am Ende der Verimpfung wird dann aber wieder alles ganz normal sein. Weil wir dann eine einzige große Herde sein werden. Wird uns versprochen.

Aber ich glaub das noch nicht. Es wird so manches neu normal sein, was es bisher noch nicht gab. Die Herde muss ja betreut werden. Das machen dann – so wie jetzt schon – die Produzenten der Dosen. Der Impfdosen. Und die Männer, die diese Geschäfte vermitteln. Das müssen nicht unbedingt alles Abgeordnete sein und nicht alles Christenunionisten. Aber die sind halt am nächsten dran an den Töpfen, aus denen sich Millionen Dosen Gewinn schöpfen lassen. Das ist dann neu normal. Na gut: nicht so ganz.

Eins jedoch nehme ich mir fest vor: NICHTS wird wieder ganz normal sein. Und bleiben.